Anni beeilte sich und versuchte krampfhaft, die letzten Falten aus ihrem T-Shirt herauszubekommen. Unmöglich. Ohne ein funktionierendes Bügeleisen war das vergebene Liebesmüh. Die Zeit im Koffer hatte besonders ihren Shirts nicht gut bekommen und jetzt lief sie ständig in Knitteroptik herum. Die wenigen Bügel, die das Motel bot, hatte Anita für ihre ordentlichsten Klamotten benutzt.

Pünktlich um drei kam Anita aus dem Motel heraus und setzte sich, in Ermangelung einer Bank, auf das Treppengeländer. Hoffentlich würde Joyce bald kommen, Anni fand es immer besonders blöd, lange auf jemanden warten zu müssen. Das war einer der Gründe, warum sie sich stets bemühte, selbst pünktlich zu sein. Sie schaute auf ihre Uhr. Eine Minute nach drei. Die Zeit vergeht langsamer als gedacht, während man wartet, sagte sie sich selbst und seufzte.

Das Cafe umfing sie mit seinem üblichen Geruch von frischem Kaffee, den Annie so liebte. Tief sog sie die Luft ein und wartete, bis Joyce ebenfalls eingetreten war. Doch entgegen ihrer Hoffnungen, der Dunkelhaarigen einen neuen Aspekt von Newcastle und ihr Lieblingscafe zu zeigen, kam ein strahlender Mann hinter der Verkauftheke hervor und umarmte Joyce. Er meinte, das, was sie trinken würden, würde auf's Haus gehen. Das war Anita unangenehm, sie nahm nicht gern das Geld anderer an - wusste sie doch, wie es war, nicht genug davon zu haben. Schüchtern lächelte sie den Mann an, den ihre Begleiterin als Nick vorstellte.

"Hi", nuschelte sie. Sie fand es immer ganz blöde, jemandem vorgestellt zu werden, da wusste sie nie, was sie sagen sollte. Die gelernte Professionalität, mit der sie sonst ihren Chai Latte bei Nick bestellt hatte, war wie weggeblasen. Hoffentlich würde Joyce für sie bestellen - Anni wollte sich nicht blamieren und wusste jetzt schon, dass sie eine leichte Röte auf den Wangen vorzuweisen hatte. Bei einem Mädchen hätte sie bestimmt nicht solche Probleme, aber Jungs machten sie immer total schüchtern.

Anni machte sich ein wenig Sorgen, dass Joyce jetzt dachte, sie wäre total die nicht vergesellschaftbare Nudel. Aber was konnte sie denn dafür, dass Männer sie so nervös machten? Anni fuhr sich duch das schulterlange, brauen Haar - eine Geste, um die Nervosität abzuschütteln. Nick fragte sie etwas und Anita antwortete mit einem höflichen: "Ja, bitte." Vielleicht würde ein Chai Latte sie wieder normaler machen.

Schon als sie sich gesetzt hatten, fühlte sich die junge Frau um Welten besser. Heute war es nicht so brechend voll - bei dem schönen Wetter wollten die meisten wohl zum Strand oder in den Park. Das war schon einmal entspannender als die lärmende Menge, die ansonsten hier saß.

"Oh, die Idee finde ich gut!", sagte Anni und lächelte Joyce zu. In eine WG wollte die Brünette auch schon immer einmal ziehen, allerdings hatte sie nie die Zeit dazu gehabt. "Hast du schon wen, mit dem du zusammenziehen willst? Oder gründest du mit diesem Blane eine WG?", hakte sie nach. Kurz kam ihr der Gedanke, dass Joyce vielleicht mit ihr zusammenziehen wollte - aber sie verwarf den Gedanken schnell. Die beiden kannten sich ja kaum. Blöde Idee.

Das schien ja alles viel zu schön, um wahr zu sein. Gerade wo sie das Motel satt hatte, kam Joyce mit ihrer fixen Idee einer Wohngemeinschaft um die Ecke. Es war einfach zu verlockend. Anita spürte, dass sich ein Funken Aufregung in ihrem Bauch breit machte. Ihre Augen funkelten interessiert, auch wenn ihr Mund noch etwas skeptisch verzogen war. Ihre Mutter hatte ihr immer beigebracht, dass bei Geld die Freundschaft aufhöre - ein wahrer Gedanke.

"Ich weiß nicht", meinte das Mädchen verlegen. "Ich würde mich schlecht dabei fühlen. Auch wenn du das größere Zimmer hättest. Allerdings könnte ich dann bei der Tierhilfe auch mal Tiere mitnehmen und sie Zuhause pflegen, das wäre natürlich super... Vorrausgesetzt, man darf Tiere in der Wohnung halten..." Anita träumte schon von ihrem eigenen Zoo Zuhause. Ich würde mich so freuen, wenn ich endlich eine eigene Katze halten könnte!, dachte sie und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. "Wir können uns die Wohnung ja mal anschauen", gab sie sich dann geschlagen. "Angucken kostet ja nichts!"

Der starrte Blick von Joyce, als sie gespannt auf eine Antwort gewartet hatte, fiel endlich von ihrem Gesicht und wurde durch ein breites Siegerlächeln ersetzt, das auch Anni nun zum Grinsen brachte. Ihre - sollte sie Joyce jetzt als Freundin bezeichnen? - potentielle Mitbewohnerin hatte sich scheinbar schon in die Anzeige der Wohnung verliebt. Wenn Anita nach der Besichtigung einen Rückzieher machen würde, wäre Joyce wohl auf das Tödlichste deprimiert, vielleicht gar wütend. Anita seufzte leise, doch das Lächeln Joyces steckte sie einfach viel zu sehr mit Aufregung an, als dass sie sich groß Gedanken machen konnte.

"Von mir aus jetzt gleich. Naja, eigentlich muss der Vermieter ja Zeit haben - hast du seine Nummer?", fragte Anni und runzelte leicht die Stirn. Wahrscheinlich wusste Joyce sogar schon, wie seine Kinder hießen, so sehr schien sie mit den Details platzen zu wollen.

Joyce kramte in ihrer Tasche und zückte schließlich ein nigelnagelneues Smartphone - entschuldigung, iPhone! Anni beneidete sie ein bisschen (sehr). Ihre Begleiterin schien sich keine Sorgen um Geld machen zu müssen, hatte stets den neusten Kram und war zudem auch noch schön. Als Joyce kurz nach draußen ging, um mit dem Vermieter zu telefonieren, stützte Anita den Kopf in die Hände und atmete zischend aus. Was hatte sie sich da jetzt wieder eingebrockt? Was, wenn es nicht klappte?

Als Joyce total aufgedreht zurückkam, hatte Anni immer noch den Kopf auf eine Hand gestützt und ihren Chai Latte nicht einmal angerührt - er war ja noch brühend heiß! Doch auch in ihr war schließlich Vorfreude zu verspüren, also ignorirte sie diesen Fakt - der Chai ging ja eh auf's Haus! -, trank die bestmögliche Anzahl von Schlucken und folge der Älteren auf die Straße und zu der Wohnung.