Gehetzt fuhr sich Hazel durch ihr rotes Haar, wodurch sich eine Strähne aus dem Zopf löste und ihr in den Nacken fiel. Seufzend blieb sie stehen, öffnete die Haare komplett und schüttelte sie mit einer Hand auf, um irgendwie ein bisschen Volumen in die aalglatten Haare zu bekommen. Ihre Schicht war seit einer halben Stunde um, doch erst jetzt hatte sie sich aus dem Laden befreien können um endlich den Heimweg anzutreten. Eigentlich müsste sie lernen, schließlich schreibt sich eine Prüfung nicht von allein, doch irgendwie fehlte ihr schon seit einer Weile die Motivation. Mit schnellen Schritten lief sie weiter durch die noch relativ leeren Straßen. Eine Stunde später und der Verkehr würde sich wieder bis zur großen Hauptstraße stauen, doch bis dahin würde sie schon Zuhause sein, Tee trinken und in den Schulbüchern blättern. In diesen Momenten fühlte Hazel sich fast wie eine ganz normale Studentin. Ein Leben ohne alkoholsüchtigen Vater, verlorenen Bruder und Geldnot. Wäre das nur möglich.
Gedankenverloren starrte die Rothaarige auf den Weg vor sich und merkte gar nicht wie sich langsam der Träger ihrer Handtasche löste. Zu schnell als dass sie reagieren konnte verteilte sich der komplette Inhalt auf dem Gehweg. Fluchend kniete sie sich runter und begann sämtliche Notizblöcke, Schlüssel und andere Kleinigkeiten wieder zurück in die kaputte Tasche zu stopfen, während die anderen Fußgänger unbeirrt an ihr vorbei gingen. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

Seit zwei Tagen war er zurück in Newcastle. Gott sei Dank! Das Trainingscamp war sehr anstrengend gewesen. Schweiss und Tränen standen an der Tagesordnung. Okay, geweint hatte Nero nicht, aber es hatte durchaus Teilnehmer gegeben, die wieder nach Hause flogen, weil es ihnen zu viel wurde. Kein Wunder! Der Trainer hatte kein Mitleid gehabt, rum geschrien wie am Spiess und jeden beleidigt, der ihm über den Weg gelaufen war. Echt schlimm. Naja, jetzt war es vorbei und der Braunhaarige hatte vom Camp stark profitiert. Er war besser geworden, wie das Spiel gegen seine Kumpels gestern bewiesen hatte. Sie konnten kaum noch mit ihm mithalten oder ihm den Ball abnehmen. Nero nahm einen Zug seiner Zigarette, die in seinem Mundwinkel steckte und achtete nicht auf den Gehweg, als plötzlich ein Knirschen zu hören war. Seine Augen wanderten zu Boden, bemerkten den Stift, der sich nun unter seiner Schuhsohle befand. Nanu? Wo kam der den her? Er trat einen Schritt zurück und hob den Stift hoch. ,, Ist das deiner?‘‘, fragte er die Rothaarige, die ihre Sachen zusammen sammelte. Anscheinend war ihre Tasche kaputt gegangen oder sie war schon kaputt gewesen und die Dame hatte sich noch keine Neue gekauft. Mitleid hatte Nero trotzdem nicht. Mit einem Seufzen bückte er sich, um die restlichen Sachen aufzuheben. Die Manieren, die ihm seine Eltern beigebracht hatten, waren nicht vergessen gegangen. Er betrachtete die junge Frau und seine Augen weiteten sich erstaunt, als er bemerkte, dass es sich um Hazel handelte. Genau, die gab es ja auch noch. Er hatte sich dazu überwunden ihr eine Postkarte, zu schicken. Ob diese angekommen war? Eigentlich konnte es ihm egal sein. Die Rothaarige hatte sich nämlich kein einziges Mal bei ihm gemeldet und er selbst hatte keine Lust ihr dauernd hinterher zu rennen. Wie es aussah, wollte sie einfach nicht mit ihm befreundet sein. Gut, er würde es akzeptieren.

Mittlerweile hatten sich dichte Wolken vor die Nachmittagssonne geschoben und die Passanten auf den Straßen legten ein schnelleres Tempo ein, in Sorge vor einem nahenden Regen. Wütend warf Hazel die quer verteilten Sachen in die kaputte Tasche. Warum hatte sie sich nicht schon vor langem eine neue gekauft? Viel zu lang hat sie gehofft und sich gewünscht, dass die dunkelbraune Handtasche zumindest den Sommer überleben würde, dabei wusste sie dass das pure Utopie war. "Ist das deiner?" Eine junge Männerstimme lies die Rothaarige aufhorchen. Automatisch drehte sie sich um und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes... genauer gesagt in das Gesicht von Nero! Erschrocken sprang Hazel auf und trat einen Schritt zurück. Tatsächlich, vor ihr stand Nero Firestone. Der Nero der vor einigen Monaten ins Ausland geflogen ist für ein Basketballtraningslager. Er hatte ihr sogar eine Postkarte geschrieben, welche Hazel aufmerksam gelesen hatte und nun irgendwo zwischen ihren Notizzetteln rumlag. Aus einem unbestimmten Grund hatte sie sie nicht weggeschmissen, es war ihr nicht richtig vorgekommen. "Ja, das ist meiner. Danke", noch ein wenig perplex nahm die junge Frau ihm den Stift aus der Hand und steckte ihn zurück zu den anderen. "Lang nicht mehr gesehen", mehr fiel Hazel dazu nicht ein. Es kam ihr sehr befremdlich vor jetzt vor ihm zu stehen.

Mehr hatte sie nicht zu sagen? Seine Augenbraue zuckte nach oben. Was hatte er schon von ihr erwartet? Schön dich wiederzusehen? Oder ich freu mich dich, zu sehen? Das würde nicht zu ihr passen. Hazel hatte sich die ganzen Monate über recht abweisend gegenüber ihm verhalten. Wieso sollte sie das jetzt ändern? Er reichte ihr die anderen Sachen, die er eingesammelt hatte, und richtete sich wieder auf. ,, War das alles oder kommt noch mehr?‘‘ Vielleicht ein Dankeschön für die Postkarte? Es war lächerlich. Wieso war er ihr vor seiner Abreise hinterher gerannt? Hatte sie sogar zu sich nach Hause eingeladen? Wenn Nero jetzt darüber nachdachte, kam er sich vor wie ein Narr. ,, Du solltest dir eine neue Tasche kaufen.‘‘ Oh! Sie hatte ja gar kein Geld. Tja, selbst schuld. Seine Augen lagen herablassend auf ihrem Gesicht, bevor er sich abwandte und einfach an ihr vorbei lief. Was sie konnte, konnte er schon lange!

"War das alles oder kommt noch mehr?" Immer noch verdutzt war Hazel zu nichts anderem fähig als Nero wortlos anzustarren. Wieder machte sich in ihr die lang verschollene Zwispalt breit und lähmte ihre Gedanken. Immer wieder öffneten und schlossen sich ihre Lippen, ohne auch nur einen Laut hervor zu bringen. Alles was ihr in den Sinn kam erschien ihr unangebracht, wertlos, nutzlos. Die Rothaarige hatte oft überlegt was sie tun sollte, würde sie Nero wiedertreffen. So viele Möglichkeiten waren ihr in den Sinn gekommen, doch in diesem Moment wusste sie keine einzige. Sie konnte beobachten wie sich sein Gesicht abschätzig verzog und er selbst ein ähnliches Gefühlswirwar durchlief. "Du solltest dir eine neue Tasche kaufen." Der Satz hallte in ihren Ohren, während er sich abwandte und ging. Es dauerte einen ganzen Augenblick, eh sie sich aus ihrer Starre lösen und das restliche Zeug in ihre kaputte Tasche stecken konnte um ihm eiligen Schrittes nach zulaufen. Sie war sich selbst nicht ganz sicher warum sie das tat, doch es fühlte sich richtig an. Vielleicht war er doch nicht die ganze Zeit über der Böse gewesen. Vielleicht war in Anteil größer als sie gedacht hatte. "Vielen Dank für die Postkarte", war das erste was ihr über die Lippen kam und wahrscheinlich auch das erste was sie hätte sagen sollen. Schon lang bevor Nero zurück nach Newcastle gekommen war.

Nero hatte nicht damit gerechnet das Hazel ihm hinterher laufen würde. Eher damit das sie ihre Sachen zusammenpackte, ihm böse Wörter an den Kopf knallte und danach verschwinden würde. Umso erstaunter war der Braunhaarige, als das Rotkäppchen plötzlich neben ihm lief und ein Dankeschön für die Postkarte von sich liess. Unglaublich! Solche Worte aus ihrem Mund. Sie war stets abweisend gegenüber ihm gewesen und jetzt bedankte sie sich sogar für seine Postkarte? Konnte sie Gedanken lesen oder so? ,, Keine Ursache.‘‘ Wie viele Male er dieses Ding neu geschrieben hatte? Vier oder fünfmal? Jedes Mal war ihm ein Rechtschreibfehler unterlaufen oder er hatte den Text als unpassend empfunden. ,, Als ich mit ein paar Jungs unterwegs war, haben wir in nem Souvenirladen haltgemacht und spontan Postkarten gekauft.‘‘ Was für eine Lüge! In Wahrheit hatte sich Nero ganz alleine in ein Geschäft begeben und war eine halbe Stunde vor dem Postkartenständer gestanden um eine auszuwählen, die ihr gefallen könnte. Der Ladenbesitzer hatte ihn bestimmt als verrückt abgestempelt. ,, Hab ich, was Interessantes verpasst?‘‘ Was könnte in Newcastle schon Spannendes passieren?

Hazel konnte nicht anders als erleichtert aufatmen als Nero seinen Blick zu ihr wandt und mit ihr sprach. Sie hatte doch richtig gehandelt. "Als ich mit ein paar Jungs unterwegs war, haben wir in nem Souvenirladen haltgemacht und spontan Postkarten gekauft." So froh sie doch über seine Reaktion war, so ganz glaubte sie ihm seine Geschichte nicht. Die Karte war viel zu sorgfältig geschrieben worden, als das sie einfach nur nebenbei verfasst worden ist. Selbst sie, als Frau, schrieb selten so ordentlich. Doch die Rothaarige wusste dass jede Kritik an seiner Aussage von ihm falsch aufgefasst werden würde und lächelte daher nur vor sich hin. Auf seine Frage hin ob in Newcastle was neues passiert sei, musste sie eine ganze Weile überlegen. Hazel war so sehr mit arbeiten und lernen beschäftigt dass sie kaum etwas mitbekam... "Naja, ich studier jetzt an der Newcastle University", sie zuckte kaum merklich mit den Schultern. Nero war länger weg gewesen als ihr bewusst war. Er hatte nicht mehr mitbekommen wie sie sich an der Universität beworben hatte und glücklicherweise angenommen wurde. Tagelang hatte die Rothaarige morgens, mittags und abends den Briefkasten kontrolliert und sehnsüchtig auf eine Antwort auf ihre Bewerbung gehofft. Und als die Bestätigung da war, brach sie in Tränen aus. Als erste in ihrer Familie erhielt sie die Chance auf eine positive Zukunft, und das würde sie sich nicht kaputt machen lassen.

,, Gratuliere.‘‘ Es war nicht einfach an einer Universität aufgenommen, zu werden. Besonders, wenn die Mutter oder der Vater keinerlei Einfluss darauf nehmen konnten, was bei Hazel der Fall war. Oder hatte sich in den letzten Monaten das Einkommen ihrer Eltern verändert? Wohl kaum. Vielleicht hatte sie einen Sponsor gefunden oder gar einen festen Freund, der ihr das Geld zur Verfügung stellte? Oder sie hatte es alleine mit ihrem Können geschafft? Es gab viele Wege an einer Universität aufgenommen zu werden. ,, Und was studierst du?‘‘ Er hatte nichts davon gewusst. Zumindest glaubte Nero dies. Gut möglich das die beiden Mal darüber geredet haben und er diese Tatsache schlichtweg vergessen hatte. Der Brünette fühlte sich ein wenig fehl am Platz. Er war es gewohnt im Mittelpunkt zu stehen und musste nun schmerzlich feststellen, dass seine Freunde ihn in kürzester Zeit vergessen hatten. Moment! Konnte man solche Menschen überhaupt als Freunde bezeichnen? Ein richtiger Freund hätte sich bei ihm gemeldet, sich nach seinem Empfinden erkundet und ihn nicht einfach so vergessen.